Was einem Menschen so durch den Kopf geht, wenn er über Stunden mit allen Sinnen die Hallen der Hannover-Messe-Industrie- ‚die‘ Allee der Technik – durchstreift, sich dann kontemplativ zurückzieht, lesen Sie hier:
Am letzten Messetag der HMI sitze ich etwas erschöpft auf einer Parkbank an der Expo-Allee. Die Hallen 10 und 11 mit der Energietechnik im Rücken, die Halle 14 mit IT & Automation vor mir, schaue rechts rüber, vorbei am Convention Center auf die Halle 9, auch Automation, links daneben die Halle 7, in der auch meine Firma als Aussteller vertreten ist – da das große rote Banner mit dem Thema „Digital Factory“ – und etwas weiter links noch ein Zipfel von Halle 6: „Industrial GreenTech“, heißt da die Headline – natürlich auf grünem Grund.
So kurz vor Messe-Ende wird es ja etwas ruhiger. Obwohl man nicht sagen kann, dass die Messe überlaufen gewesen wäre – bin schon gespannt auf die spezielle euphemistische Presse-Prosa der Messegesellschaft. Aber so hat man auch als Aussteller Gelegenheit, sich etwas umzuschauen. Hab eine kleine Tour de Raison durch die Hallen gemacht, auch als kleine Fotosafari. Hab die Dinosaurier der Automatisierungstechnik mit ihren imposanten Monsterständen festgehalten, zwei Kängurus entdeckt, das eine als ferngesteuertes Bionic-Exemplar, dann auch als „Pappkamerad“.
Wie kann ich die diesjährige Hannover Messe Industrie zusammenfassen? Was war der Tenor, was ist Trend? Worauf muss ich als Anwender und Anbieter – also als „Marktteilnehmer“ – in der Zukunft achten, was ist wichtig? Vor allem: Wer ist unwichtig, was ist nur Papptrend, wie stirbt die Dinosaurierertechnik?
Mental angefixt von knackigen Werbesprüchen, aufdringlichen, bunten Plakaten, den schwirrenden Messeexponaten und den sie flankierenden industriepolitischen Botschaften der „Industrie 4.0“ , beschäftigen mich die Fragen, wo die ca. 5.000 ausstellenden Firmen bitte schön alles verkaufen, wie sie ihren Markt finden? Warum können alle nebeneinander bestehen? Wieso finden sich die potenziellen Kunden zurecht, mit den Angeboten, die oft auch auf den zweiten Blick noch ähnlich sind, zumindest aber den gleichen Nutzen versprechen. Wie können wir uns als Firma von unseren Marktbegleitern abgrenzen, auf uns aufmerksam machen, ohne uns mit weniger relevanten Features falsch „wichtig“ zu machen“?
Ist Industrie 4.0 wirklich ein „Markenzeichen“? Was auf der Messe alles unter diesem Thema subsumiert wird ist schon erstaunlich: Fast alles. Stimmt ja auch: Alles entwickelt sich weiter, hängt zusammen, versteht sich elektrisch oder mechanisch, ohne viel Hinzutun des Nutzers. Es wird aber schnell deutlich, dass Industrie 4.0 kein (Quasi)Standard ist, so wie etwa Windows 8.0, sondern eher ein Synonym für Fortschritt, ähnlich wie „Web 2.0“, das auf eine konsequente Anwendung von bestimmten technischen Prinzipien sowie bi- und multidirektionaler Nutzungen – zwischen Anbieter- und Nutzerseite – hinweist. Es ist also berechtigt, dass sich das? Thema ‚4.0‘ auf fast alle Bereiche der Industrie und des Konsums ausdehnt, gerade die Brücke zwischen diesen bildet.
Ein Resümee fällt mir schwer. Sehe ich doch vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr?
Da fällt mir auf meiner Parkbank auf, dass sich Messebesucher für die Bäume der ‚Expo-Allee‘ interessieren, so die Bezeichnung auf dem Lageplan für diese breite Schneise auf dem Gelände. Die Menschen fotografieren die Blütentraumbäume, deren Stämme, an denen sich kleine Schildchen befinden.
Hier ist also echte ‚GreenTec‘, denke ich. Aber Industrial GreenTec habe ich mir anders vorgestellt, nicht so natürlich, ohne duftendende Kirschblüten und zartem frühlingsfrischen Grün. Ich schaue mir die Schildchen genauer an. Auf einem steht: Kugeltrompetenbaum, auf einem anderen: Sumpf-Zypresse, jeweils mit der lateinisch botanischen Bezeichnung. Die Anpflanzung scheint einem System zu folgen und dank meiner Mobil-IT am Mann google ich gleich den System-Sinn: Ich werde fündig. Es handelt sich um die 1 km lange 4-reihige Allee der‘ Vereinigten Bäume‘ mit ungefähr 500 hochstämmigen Bäumen aus über 270 unterschiedlichen Arten, die in mitteleuropäischen, kompatiblen Klimazonen beheimatet sind. Diese Allee wurde 1996 für die EXPO 2000 angepflanzt. Eine weltweit einmalige Konstellation, ähnlich einmalig wie das weltweit größte Messegelände hier.
Sahen noch vorhin viele Bäume für mich gleich aus, so bin ich jetzt sensibilisiert. Eiche ist nicht gleich Eiche. Nein, hier gibt es 15 verschiedene Eichenarten. Neben der gemeinen deutschen Eiche, die schon von den Germanen als heiliger Baum verehrt wurde, stehen die echte Stil-Eiche, die gerade Säuleneiche, ach ja, dort die Scharlach-Eiche. Auch Ahorn, Buche und Koniferengewächse, also Nadelhölzer, sind vielartig vertreten. Aber auch Obstbäume wie Kirsche und Apfel entdecke ich, nur als ‚Zier-Versionen‘. Würde sonst durch Selbstversorgung der Messebesucher die Gastronomie geschwächt?
Jetzt wird die Parallelität, der zusätzliche Sinn dieser Allee deutlich: Auch wenn in den Messehallen Vieles auf den ersten Blick ähnlich aussieht, so muss ich genau hinsehen: Buche ist nicht gleich Buche, 3D-Projektionssystem nicht gleich 3D-Projektionssystem. Die OCULUS Rift 3D-Brille – einer Taucherbrille ähnlich – aus dem PC-Gaming-Markt hat neben der Highend 3D-Powerwall-Cave eine Existenzberechtigung, wie die Mähnen-Zypresse neben der Schein-Akazie. Und wer weiß schon zu sagen, ob die Weiße Zierkirsche nicht vom amerikanischen Trompetenbaum in einer ähnlich geheimnisvollen Verbindung steht, wie der Extrem 3D Drucker zum LTE/HSPA+/UTMS/CDMA/EDGE/GPRS Mobil Router.
Neben der weißen Himalaya-Birke grünt die heimische Linde, zwischen Exoten findet sich hier das vermeintlich Schlichte, was mich daran erinnert, dass ich vorhin auf einem Stand eines Fraunhofer Instituts einen gewöhnlichen Kinect-Sensor aus der Videospiel-Konsole X-Box sah, in Eintracht mit einer komplexen Automatisierungsszene.
Spielt hier zusammen, was zusammen gehört?
Ich gehe beschwingt und mit einem Lächeln zurück an meinen Stand, abbauen, denn jetzt habe ich ein Bild, eine schöne Metapher für die Vielfalt und das Zusammenwirken der Technik.
Nur auf dem Nachhauseweg im niedersächsischen Landregen dämpft das tägliche Messestaugrau meine hochfliegenden Ideen: Flächendeckendes Technical-Green ist doch noch unreal, denn wir sind noch nicht alle miteinander vernetzt, um für jeden die optimale Zeit zum Abreisen zu ermitteln, ohne Stau und Abgase. Aber das kommt bestimmt, wenn wir den „Next-Level“ erreichen, mit Natur 2.0 in Kombi mit Industrie 5.0.
Herbert Beesten, 1953 im Münsterland geboren, Starkstromelektrikerlehre, Ingenieurstudium der Automatisierungstechnik in Münster, seit 1979 selbstständig, Gründung von Automatisierungsfirmen, heute geschäftsführender Gesellschafter der tarakos GmbH in Magdeburg, Vater von drei erwachsenen Kindern, auch als Literat und Performer aktiv.
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